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Fair Fashion-Lobbyistin Lavinia Muth über eine nachhaltigere Bekleidungsindustrie

Nina Kegel

Nachhaltigkeits-Expertin im Bereich bewusster Konsum und umweltgerechtes Leben

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Lavinia Muth war einige Jahre Nachhaltigkeitschefin des Modelabels Armedangels. Nun teilt sie als Speakerin ihre Erfahrungen und unterstützt als Beraterin Bekleidungsunternehmen dabei, ihre Geschäftspraktiken ethischer und sozial gerechter zu gestalten. Mit uns hat sie über ihre Arbeit und die Herausforderungen einer nachhaltigen Modeindustrie gesprochen.

Wer Lavinia gegenübersitzt und mit ihr über transparente Lieferketten, Dekolonialisierung und die westliche Konsumgesellschaft spricht, versteht schnell, wie sie es bereits zu einer solchen Vita gebracht hat und sie auch große Unternehmen an ihrer Seite wissen wollen. Denn ihre nüchternen Einschätzungen der derzeitigen Entwicklungen in der Modeindustrie und des Selbstverständnisses scheinbar nachhaltiger Unternehmen sowie ihre anekdotischen Erlebnisberichte, die sie scheinbar beiläufig in ihre Ausführungen einfließen lässt, lassen bereits nach wenigen Minuten ihren weitreichenden Erfahrungsschatz erahnen. 

In über einem Jahrzehnt hat sie bereits viel Erfahrung in internationalen Projekten mit Fokus auf Textilien und solidarischer Landwirtschaft gesammelt. Wir wollten mehr über ihre Arbeit wissen und haben sie an einem sonnigen Freitagnachmittag zum Gespräch getroffen.

Hej Lavinia, wie würdest du deine Arbeit beschreiben?

Ich mache so ein bisschen von allem im Bereich Gerechtigkeit in der textilen Bekleidung, im Bereich Schuhe und Textilien. Von der Ausbildung her bin ich Wirtschaftswissenschaftlerin und ein bisschen durch Zufall über eine Beratungsfirma in die Textilindustrie gerutscht. Und diese Beratungsfirma, die war und ist spezialisiert auf die Implementierung von sozialen und ökologischen Standardanforderungen. Dementsprechend bin ich so eine, ich würde sagen, Nachhaltigkeits-Allrounderin. Also ich kann sowohl den Bereich Soziales bedienen, habe da viel Erfahrung vor Ort gesammelt, als auch den Bereich des Umweltmanagements, aber auch Strategie, Ethik-Ausrichtung und diese ganzen nicht wirklich neuen Themen wie Postkolonialismus, die aber nun endlich Platz auf der Agenda bekommen haben. Dann habe ich vier Jahre bei Armedangels die Nachhaltigkeit geleitet und jetzt bin ich seit einem Jahr selbstständig, berate, spreche und mache da, wo ich es für sinnvoll halte, Lobby- und Advocacy-Arbeit. Ich berate sowohl Privatunternehmen als auch NGOs und Gewerkschaften in dem Bereich und versuche diese zusammenzubringen – immer mit dem Ziel, Arbeiter:innen zu stärken bzw. zu befähigen, sodass sie sich selbst organisieren und ihre Macht wahrnehmen und ausüben.

Welcher Wert oder welche Maxime ist bei deiner Arbeit besonders wichtig?

Ich glaube, so ein intersektionales Gerechtigkeitsverständnis. Und immer, immer, immer gepaart mit Bescheidenheit, also Realismus und Bescheidenheit im Hinblick auf meine Identität als weiße, europäische Cis-Frau. So, dass man halt weiß, ich gestalte hier was Neues, was Disruptives, eventuell was Besseres, aber dass man sich trotzdem bewusst ist, wo man das global-politisch und auch wirtschaftlich einordnet.

Lavinia Muth steht vor einer lila Wand und lacht in die Kamera

Du bezeichnest dich als überzeugte Postwachstums-Ökonomin. Wieso?

Kann sein, dass ich gerade in meinem Narrativ auf diese Trendwelle Degrowth aufgesprungen bin, aber eigentlich habe ich das schon vor meinem Studium der Wirtschaftswissenschaften gemacht und ich glaube da ganz, ganz stark dran. Europe – als vermeintlicher Freiheit- und Wertegeber – is done. Ich glaube, dass es in zehn Jahren hier nicht mehr lebbar ist. Deswegen plane und schaue ich gerade schon etwas Prepper-mäßig, wo es klimapolitisch und klimagerecht Sinn macht zu leben und zu wirken.

Ganz ehrlich, bei den Italienern, Spaniern und Portugiesen sind die Ernten letztes Jahr schon bei einigen Crops und Früchten um bis zu 45 % eingefallen, weil sie kein Wasser mehr hatten. Und alles, was letztes Jahr passiert ist, mit den ganzen Dürren, das sind Dinge, die Klimawissenschaftler:innen erst für 2025 vorausgesagt haben. Also ich fahre auf jeden Fall diesen Post-Growth- bzw. Degrowth-Ansatz und ich hoffe hoffe, hoffe auf eine weitere Unabhängigkeit und Stabilisierung des globalen Südens. Also totally. Und ich hoffe, hoffe, dass es global-politisch und auch wertemäßig mehr in diese Richtung geht. Das ist natürlich alles total medial und politisch aufgeladen. Und ich hoffe auf eine Revolution der Landwirtschaft, denn alles, was wir brauchen, ist in den Böden. Auch im klimawissenschaftlichen Bereich checken wir langsam, was der Boden kann, inwieweit der Boden Kohlenstoff speichern kann, für wie lange. Und ich hoffe, hoffe, hoffe, dass Bauern und Bäuerinnen im Speziellen wieder mehr appreciated werden, dass die Arbeit besser bezahlt wird. Und dass wir checken, dass da einfach der Großteil der Lösungen liegt. Das ist jetzt ein bisschen oberflächlich und ein bisschen romantisiert. Aber ja, das hoffe ich.

Kollidiert diese persönliche Haltung manchmal mit deiner Beraterinnenrolle?

Das ist manchmal schwer in meine Arbeit zu bringen, weil ich natürlich keine aktive Forscherin in dem Bereich bin, aber bei mir ist das gepaart mit ganz viel Idealismus und einem Verständnis für Sozialgerechtigkeit. Es sind jetzt einige Unternehmen auf mich zugekommen, die eine Degrowth-Strategie implementieren wollen, was geil ist, aber die große Herausforderung ist hier, die Geschäftsstrategie mit limitierten Absatzmengen in Einklang zu bringen. Dann muss man gucken, wie man den Laden finanzwirtschaftlich am Laufen hält und wie das in die tiefere Lieferkette implementiert wird. Da versuche in den Leuten zu erklären, dass es um Degrowth für den globalen Norden geht.

Wir müssen drastisch reduzieren: In allem, was wir kaufen, was wir verkaufen, wie viel Energie wir brauchen, Wasser etc. Das heißt aber nicht Degrowth für Burkina Faso oder Indien oder Bangladesch. Die müssen weitermachen, im Sinne von: sich um sich selbst kümmern und eine egalitären Gesellschaft kreieren, schon allein aufgrund der Kolonial-Historie. Da clashed für mich die ganze Welt zusammen – auch, weil ich so ein Problem mit den Bezeichnungen developed [entwickelt] und underdeveloped [unterentwickelt] habe. Meiner Meinung nach dürfen wir ein Land nicht als underdeveloped bezeichnen, wenn es vier- oder fünfhundert Jahre systemisch unterdrückt wurde und Ressourcen und Arbeit herausgezogen wurden. Das Land ist ja nicht in einem underdeveloped Zustand, sondern wir haben es ja dazu gemacht.

Lavinia Muth sitzt in einem gemusterten Oberteil an einem Tisch und stützt ihren Kopf auf die Hände.

Immer mehr junge Marken setzen auf Portugal als Produktionsstandort. Wie kam es zu dieser Entwicklung?

Portugal hat sich durch die Produktionsstruktur insbesondere für kleinere Produktionen aufgestellt. Da ist es oft so, dass du eine große Gruppe hast, die mit ganz vielen Subcontractorn [Subunternehmen] zusammenarbeitet, die eine Workforce von 25 oder 30 Leuten haben. Natürlich stellen das viele Unternehmen so dar, dass sie aus Nachhaltigkeitsgründen dort produzieren lassen – wegen des Energiemix, des europäischen Rechts und den Arbeitsstandards –, aber Portugal ist einfach der beste Jersey-Fabrikant in Europa, das macht also schon aus qualitäts- und betriebswirtschaftlichen Gründen für kleine und mittelständische Fashionmarken Sinn.

Außerdem hat sich die portugiesische Industrie darauf eingestellt, seit große konventionelle Unternehmen dort vor zwanzig bis dreißig Jahren angefangen haben. Als diese sich dann zurückgezogen haben, musste sich auch Portugal anders aufstellen, die gehen ja einfach mit den Marktdynamiken und versuchen sich so zu stabilisieren. Aber wenn es um die menschenrechtliche Sorgfaltspflicht geht, ist es in Portugal schon besser als in der Türkei beispielsweise, die ja europanah ist.

Aber mit den Standorten ist es komplex. Es gibt auch in Bangladesch super Fabriken, die vertikal aufgestellt sind, mit eigener Schule und eigenem Kindergarten. Klar, China oder Vietnam sind beide eine ziemliche Blackbox, allein schon politisch gesehen, und so wird es wahrscheinlich auch bleiben. Oder in der Türkei: Alle Betriebe, mit denen ich dort zusammengearbeitet habe, waren Anti-Erdogan und wirtschaftlich-liberal ausgerichtet, mit anständigen Arbeitsbedingungen und coolen Geschäftsführer:innen, die sich echt für die Arbeitnehmer:innen eingesetzt haben. Aber klar, als Land ist das sehr konfliktreich.

Gibt es einen Produktionsstandort, bei dem sich Konsument:innen einer fairen Produktion gewiss sein können?

Da habe ich leider zu viele Insights [lacht]. Klar, der Produktionsstandort Deutschland ist schon interessant und das ist nochmal was anderes als jetzt in Portugal. Zumindest das, was ich kenne, was auf der schwäbischen Alb passiert oder im Osten von Deutschland, das ist schon anständig, was Arbeitsbedingungen angeht und natürlich Umweltauflagen etc. Auch die Portugiesen verbessern sich immer mehr, aber ich weiß nicht, wie eine portugiesische Arbeitnehmerin mit 741 € Mindestgehalt überleben kann – wobei die Lebenshaltungskosten meines Wissens nur 25 % weniger sind als in Deutschland. Wenn ich das einen Fabrikbesitzer frage, sagt er natürlich auch, dass er das nicht weiß. Gegen mehr Gehalt hat er betriebswirtschaftliche Argumente.

In Sachen Materialien gibt es gerade mit recyceltem Polyester, Tencel usw. viele vermeintliche Innovationen. Welches Material bevorzugst du?

Ich bin immer noch für Baumwolle und Wolle. Es passiert ganz viel falsche Kommunikation global, gerade was die Umweltaspekte und den Unterschied zwischen Bio und nicht Bio angeht. Es ist ganz klar, dass der konventionelle Baumwollanbau scheiße ist, aber es gibt auch ganz, ganz viele Landflächen auf der Erde, wo es gar nicht so schlimm ist. Schon allein die Aussage “Baumwolle ist eine durstige Pflanze” ist einfach nicht korrekt. Es ist eine Wüstenpflanze und im Durchschnitt braucht Baumwolle weniger Wasser als Soja, Reis etc. Es liegt einfach an der Industrialisierung der Pflanze und wie wir damit umgehen. Ich glaube, wenn wir eine Revolution starten würden und globale Landwirtschaft anders betreiben würden, dann sehe ich für Baumwolle definitiv eine gute Zukunft, weil es einfach eine gute Pflanze ist. Es ist eine super robuste Faser, die ist recyclebar. Also ich bin immer noch voll der Baumwollfan, muss ich einfach so sagen.

Lavinia Muth vor einer lila Wand

Und alle Diskussionen, die es um Hanf & Co gibt: Da gibt es ja null Transparenz, da kann man gar nicht viel zu sagen. Außerdem braucht die Wärme- und Kälteröstung von Flachs-Fasern viel Energie und viel Wasser und wir haben keine komplementären Berechnungen zum Fußabdruck von diesen Pflanzen als Vergleich. Zu Hanf haben wir überhaupt keine Daten. Also ich bin mal gespannt, wenn jetzt die ersten Lifecycle Assessments [Lebenszyklusanalyse, eine systematische Analyse der Emissionen etc. von Produkten während des gesamten Lebenszyklus] rauskommen, die mit Primary Data durchgeführt wurden. Das wird nicht so geil aussehen, auch Leinen nicht. Also nicht so wie es aktuell gemacht wird.

Und dann muss ich zugeben: Ja, Wolle. Also Schafwolle ist halt der Shit. Da bin ich immer noch ein Riesenfan von, weil sie einfach unkaputtbar und super zu recyceln ist. Da muss sich aber natürlich angucken: Wo werden die Schäfchen gehalten? Was passiert mit dem Land? Inwieweit wird der Boden kaputt gemacht? Ich hatte heute Morgen noch einen Call mit einer jungen Dame, die sich gerade eine riesengroße Farm in Uruguay angeguckt hat, die RWS [Responsible Wool Standard] zertifiziert ist. Ultra geil. Aber ich habe ihr gesagt: "Fahr aber mal in den Süden von Argentinien." In Uruguay ist es eine Landfläche, auf der eigentlich Lebensmittel angebaut werden sollten. Aber die nutzen große Flächen für die Schafwirtschaft. Im Süden von Argentinien, in Patagonien, sieht es anders aus. Also zumindest nach den Studien, die man jetzt die letzten 150 Jahre gemacht hat, was Bodenfruchtbarkeit & Co angeht. Da wurde die letzten 5000 Jahre wahrscheinlich kein Essen angebaut und das wird auch in der Zukunft nicht geschehen. Und dementsprechend ist da eine Schafhaltung nicht so schädlich für Boden & Co. wie jetzt da oben in Uruguay.

Welche Idee oder welcher Trend in Sachen nachhaltiger Mode ist für dich gerade am spannendsten und sollten wir nicht verpassen?

Wenn ich die Frage systemisch betrachte, dann werden mir hoffentlich alle zustimmen, wenn wir endlich das Thema gerechte Entlohnung angehen. Es ist echt an der Zeit. Ich meine, wenn wir uns vorstellen, dass es keine komplette Lieferkette vom Rohstoff bis zum fertigen Textil gibt, in der nachweislich existenzsichernde Löhne gezahlt werden. Das ist eine Schande bei der ganzen Media-Präsenz von „Fairness und Co.“. Daher hoffe ich stark, dass dies bald zum Trend wird.

Des Weiteren hoffe ich, dass wir das Thema „Pflege“ und „Reparatur“ und Inklusivität in allen Facetten aufgreifen werden. Letztens habe ich mit einer aus Brüssel gesprochen, die aktiv an der EU-Textilstragie mitarbeitet. Sie meinte zu mir: „Lavinia, you know, EVERYTHING is repairable.“

Fotos: Anna Maria Langer

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